Bringen Corona-Medikamente die Trendwende? Das sagt Saar-Professor Lehr

Nachdem die Impfungen lange Zeit im Vordergrund gestanden hatten, richtet sich nun der Fokus immer mehr auch auf Medikamente gegen das Coronavirus. Die Arzneimittel könnten laut Expert:innen schwere Verläufe verhindern, seien aber nicht das Mittel der Wahl. Das glaubt auch der Saarbrücker Corona-Forscher Thorsten Lehr:
Laut dem Saarbrücker Corona-Experten Thorsten Lehr sind Medikamente gegen Corona zwar hilfreich, jedoch der Impfung keinesfalls vorzuziehen. Symbolfotos: Iris Maria Maurer & Carsten Koall/dpa-Bildfunk
Laut dem Saarbrücker Corona-Experten Thorsten Lehr sind Medikamente gegen Corona zwar hilfreich, jedoch der Impfung keinesfalls vorzuziehen. Symbolfotos: Iris Maria Maurer & Carsten Koall/dpa-Bildfunk

„Die Medikamente sind eine Säule in der Coronavirus-Bekämpfung„, meint Pharmazie-Professor Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes. „Es ist gut, dass wir endlich diese Mittel haben.“ Eine Kehrtwende für die Pandemie könnten die Arzneimittel jedoch nicht bewirken. „Die Impfung ist der billigere und definitiv viel bessere und effizientere Weg.“

Antikörper-Medikamente spielten bislang kaum eine Rolle

Einige der Corona-Medikamente wurden erst jetzt zugelassen, dabei gibt es sie schon seit Monaten auch in Deutschland. Schon Anfang 2021 hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für 400 Millionen Euro 200.000 Dosen Antikörper-Medikamente gekauft. Sie kamen jedoch nur selten zum Einsatz. „Ein besonderer Einfluss war im vergangenen Jahr nicht zu erkennen“, so Lehr im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Bislang spielten sie auch in der vierten Welle eine eher untergeordnete oder zusätzliche Rolle.

Zwei neue Corona-Mittel zugelassen 

Die EU hat jüngst zwei Antikörper-Medikamente zugelassen: Ronapreve des Schweizer Pharmaunternehmens Roche und Regkirona des Herstellers Celltrion aus Südkorea. Die beiden Medikamente müssen als Infusion verabreicht werden. Das erfolgt meist im Krankenhaus. Das Münchner Universitätsklinikum bietet die Behandlung seit kurzem auch ambulant an.

Die Arzneien binden bei Infizierten das Spike-Protein von Sars-CoV-2 an sich. So kann der Erreger nicht in die Körperzellen eindringen. Das verhindert die Ausbreitung und hält die Viruslast möglichst gering. Im Grunde funktionieren die Antikörper demnach wie diejenigen nach einer Impfung oder Infektion. Der Unterschied ist lediglich, dass der Körper sie nicht selbst produziert. „Der Antikörper hat absolut die gleiche Wirkung“, so Lehr.

Gute Schutzwirkung in klinischen Studien

Der Antikörper-Cocktail aus Casirivimab und Imdevimab von Ronapreve reduziert bei Risiko-Patient:innen laut Studien die Gefahr, ins Krankenhaus zu kommen oder gar zu sterben um 70 Prozent. Bei frisch Infizierten verringere sich die Viruslast zudem um ganze 90 Prozent. Die Gefahr, Symptome zu entwickeln, sinkt um die Hälfte. Regikrona enthält den Antikörper Regdanvimab. Patient:innen mit milden bis moderaten Symptomen genesen damit schneller und weisen seltener schwere Verläufe auf. Nach einer Studie mussten nur rund drei Prozent der damit Behandelten in Kliniken eingewiesen werden, Sauerstoff bekommen oder sogar sterben. Bei Menschen, die das Mittel nicht erhalten hatten, waren es gut elf Prozent.

„Die Medikamente haben eine ganz gute Schutzwirkung, aber mit einer Wirksamkeit von etwa 75 Prozent gegen schwere Verläufe liegen sie noch unter der Wirksamkeit von mRNA-Impfungen – vor allem nach einer Booster-Impfung“, so Lehr. Zudem hätten sich die Medikamente noch nicht in der Realität bewährt. Ergebnisse aus klinischen Studien seien in der Regel nicht eins zu eins übertragbar.

Einsatz der Antikörper-Mittel meist zu spät

Darüber hinaus eignen sich die Mittel nicht für alle Betroffenen, sondern nur für Risiko-Patient:innen, die jedoch noch keine oder wenige Symptome haben. „Wenn sie zu spät eingesetzt werden, wirken die Mittel deutlich schlechter“, erklärt Lehr. Laut des Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité erfolge die Verabreichung der Antikörper-Mittel „fast immer schon zu spät“. Bei durchschnittlichen Patient:innen habe sich das Virus bei Symptombeginn im Körper bereits stark vermehrt.

600 Medikamente in der Erforschung

Aktuell forschen Wissenschaftler:innen laut US-Biotech-Branchenverbands Bio an mehr als 600 Medikamenten gegen Covid-19. Die meisten davon waren ursprünglich für andere Krankheiten vorgesehen, so der Verband der forschenden Pharmaunternehmen in Deutschland. Zehn Präparate befinden sich im Zulassungsverfahren der EMA.

Antivirale Mittel zeigen unterschiedliche Wirksamkeit

Bisher war das einzige zugelassene Medikament in der EU Remdesivir, ein antivirales Mittel des US-Konzerns Gilead. Die Arznei kommt nicht wie die Antikörper-Mittel nur bei milden Infektionen zu Einsatz, sondern bei Patient:innen mit Lungenentzündung, die zusätzlich Sauerstoff brauchen. Die Behandlung muss jedoch vor der invasiven Beatmung einsetzen. Der Nutzen ist Expert:innen zufolge jedoch eher überschaubar.

Zwei weitere antivirale Medikamente zeigten laut Lehr eine „ganz ordentliche Wirksamkeit“. Die Präparate sollen den Vermehrungszyklus der Viren unterbrechen. Molnupiravir (MSD/Merck) wurde ursprünglich gegen Grippe entwickelt. In der Phase-III-Studie zeigte sich, dass hiermit nur halb so viele Patient:innen ins Krankenhaus mussten. Die EMA will mit der Zulassung der Prüfung starten. Paxlovid (Pfizer) senkte Hersteller-Tests zufolge die Einweisungen und Todesfälle bei Hochrisiko-Patient:innen um fast 90 Prozent. Die US-Regierung kauft zehn Millionen Dosen für 5,3 Milliarden Dollar (4,7 Milliarden Euro).

Viele Arzneien richten sich gegen Komplikationen und Folgen

Andere Medikamente richten sich nicht gegen das Virus selbst, sondern nehmen Komplikationen ins Visier. Das entzündungshemmende Dexamethason etwa kommt bei invasiv beatmeten Patient:innen zum Einsatz. Es soll die überschießende Immunreaktion bremsen. Dabei kann das Immunsystem die Viren verfehlen und sich stattdessen gegen körpereigene Gewebe richten. Die Mittel Baricitinib (Eli Lilly), Anakinra (Sobi) oder Tocilizumab (Roche) dagegen zielen auf die Folgen ab und werden vor allem bei schweren Verläufen verabreicht. „Das Immunsystem zu früh herunterzuregulieren, ist auch gefährlich, denn dann gäbe es keine körpereigene Abwehr mehr gegen Sars-CoV-2″, so Lehr.

Nebenwirkungen von Antikörper-Mitteln gering

Die Antikörper-Mittel seien laut Lehr „relativ sicher“. Zwar könne es Irritationen an der Einstichstelle der Fusion geben, nennenswerte Nebenwirkungen seien jedoch bislang nicht bekannt. Anders könnte das bei den anderen Mitteln aussehen. „Ein Medikament, das keine Nebenwirkungen hat, gibt es nicht – und das wirkt auch nicht.“ Die Arzneien werden zudem an deutlich weniger Proband:innen getestet als etwa die Impfstoffe. Während es bei Medikamenten meist nur 1.000 bis 2.000 sind, waren es etwa beim Biontech-Vakzin rund 43.000.

Zudem werden die Impfungen natürlich deutlich häufiger verabreicht. Nebenwirkungen fallen demnach schneller auf, da die Zahl der Behandelten größer ist. „Wenn Sie eine Nebenwirkung haben, die zum Beispiel in 1 von 10.000 Fällen vorkommt – und das ist schon relativ häufig -, dann müssen Sie statistisch gesehen mindestens 30.000 Menschen behandelt haben, damit der Fall ein Mal aufgetreten ist“, erklärt Lehr. „Es gibt viele Medikamente, die erst nach der Zulassung Probleme gezeigt haben.“ Sie werden daher langfristig kontrolliert.

Lieber impfen als behandeln

Die Kontrolle erschwert sich dabei jedoch durch die Vielzahl an Medikamenten, die Erkrankte erhalten. Darunter sind Schmerz- und Narkosemittel, Mittel für die künstliche Ernährung oder die Stabilisierung des Kreislaufs beatmeter Covid-Patienten. Auch diese haben alle Nebenwirkungen. „Abgesehen von den Kosten: Das möchte niemand gerne nehmen, wenn es nicht sein muss“, so Lehr. Prävention sei immer besser als Behandlung. „Die Wirksamkeit der Therapien wird höchstwahrscheinlich nicht so gut sein wie das, was wir mit einer vollständigen und geboosterten Impf-Immunität erreichen können.“

Verwendete Quellen:
– Deutsche Presse-Agentur